2.4.2.6   Elektrostatische Kräfte

Grünzugfestigkeit erdfeuchter Zementleimgemische

Die Reichweite von elektrostatischen Kräften ist größer als die der van der Waals Kräfte und der Flüssigkeitsbrücken. Sie treten zwischen gleich oder gegensinnig geladenen Kör pern auf und haben eine abstoßende bzw. anziehende Wirkung. Steigt die relative Luft feuchtigkeit der gasförmigen Umgebung an, so verringern sich die elektrostatischen Wechselwirkungen. In Partikelpulvern können elektrostatische Kräfte unter anderem auf grund der sogenannten triboelektrischen Aufladung auftreten, beispielsweise verursacht durch Berührung, bzw. Reibung von Partikeln gegeneinander oder an Wänden, dabei lädt sich das Material mit der größeren Dielektrizitätskonstante positiv auf [110].

Abbildung 70: Anziehung als Funktion des Partikelabstandes nach Rumpf [119] mit 0,4 nm Kontaktabstand, entnommen aus [103]

An Abbildung 70 und Abbildung 71 [111] ist für jeweils ideal glatte Kugeln ohne Rauhigkei ten dargestellt, dass die elektrostatischen Kräfte deutlich geringer sind als Kräfte durch Flüssigkeitsbrücken und die van der Waals Kräfte, auch unter idealen Ver hältnissen bei trockenen Partikelkontakten. Jedoch reagieren sie unempfindlicher auf Ab standsänderungen und wirken auch dann noch, wenn die beiden anderen Kraftarten be reits deutlich abfallen [112].

Abbildung 71: Haftkräfte am Kugel Platte Model nach Rumpf, aus [111]

Beide Abbildungen beschreiben das Verhalten elektrostatischer Kräfte bei ideal trockenen Bedingungen, unter denen sie deutlich ausgeprägt sind.

Außerdem treten sie bei flüssigkeitsgesättigten Partikeldispersionen wie z.B. Zementlei men und Betonen in weichen und flüssigen Konsistenzbereichen auf.

Treten Feststoffpartikel wie z.B. Zement, Flugasche oder Kalksteinmehl in Kontakt mit Wasser, bildet sich eine Wasserschicht an den Kornoberflächen aus, deren Eigenschaften sich deutlich von dem Wasser unterscheiden, das weiter entfernt von einer Kornoberflä che ist. Die Schicht von Wassermolekülen unmittelbar an der Oberfläche eines polaren und damit benetzbaren Festkörpers bezeichnet man als Hydrathülle. Daran schließt sich eine Schicht mit veränderter Wasserstruktur an, die häufig als Grenzschichtwasser oder vicinales Wasser bezeichnet wird. Kezdi [30] beschreibt eine sehr hohe Oberflächenspan nung in dem strukturierten Bereich, die erst in einer Entfernung von ca. 0,5 µm von der Kornoberfläche auf das Normalniveau des Umgebungswassers absinkt, siehe auch Abbildung 6.Eine elektrostatische Kraftkomponente Fel kommt dadurch zustande, dass die Wechselwirkungen zwischen den oberflächennahen Ionen oder Atomen der Feststoff-partikel und den Wassermolekülen nicht nur zur Bildung einer Hydrathülle führen, son¬dern auch zum Entstehen einer Oberflächenladung. Durch Adsorptionsvorgänge wird die Oberflächenladung weiter modifiziert und es bildet sich eine elektrische Doppelschicht aus [97], [113]. Diese Doppelschicht ist das Resultat des Gleichgewichtszustandes zwi schen der Oberflächenladungdichte auf dem Festkörper und einer Raumladungsdichte in der angrenzenden Flüssigkeit. Der Teil der Doppelschicht, der aus beweglichen Ionen besteht, wird als diffuse Doppelschicht bezeichnet. Für die Dicke der diffusen Doppel¬schicht gibt Nägele [114] bei polaren, hydrophilen Stoffen ca. 10 nm an.

Aufgrund von Relativbewegungen der Ionen zwischen der Hydrathülle und der angren zenden Doppelschicht entsteht eine Potenzialdifferenz. Jener Teil der Potenzialdifferenz einer elektrischen Doppelschicht, der zwischen unbeeinflußter Lösung und der von der Teilchenoberfläche fest gebundenen Hydrathülle besteht, ist messbar und wird als elektokinetisches Potenzial oder Zeta-Potenzial bezeichnet [115]. Zusammenfassungen über die unterschiedlichen theoretischen Ansätze zum Aufbau der Doppelschicht und über Meßmethoden des Zeta Potenzials sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben [114], [115], [116], [117], [118].

Abbildung 72: Schematische Darstellung der elektrischen Doppelschichten und des
Zeta Potentialsbei flüssigkeitsgesättigten Partikelsystemen [118]

Das Zeta Potential ist ein elektrokinetisches Potential in der Grenzfläche zwischen dem bewegten und dem starren Teil der Doppelschicht in Abbildung 72, die sich an der Phasen grenze zwischen Festkörpern und wässrigen Lösungen bildet. Das Potential gibt Hinweise über die Ladungsverhältnisse an der Partikeloberfläche.

Eine weitere Kraftkomponente ist die sterische Kraft FSt, die auf die Strukturierung der Hydrathülle zurückzuführen ist. Im Falle hydrophiler Teilchenoberflächen bewirkt sie bei genügender Annäherung eine Abstoßung und für hydrophobe Oberflächen eine Anzie hung. Nach [97] läßt sich die Strukturierung der Hydrathülle durch Adsorption hydrophi¬ler Makromoleküle verstärken, was im gesättigten Porenraum (mit hinreichender Bewe gungsmöglichkeit) die Dispergierung verbessert. Auch bei gesättigten, beweglichen Sys temen kommt Lowke zu dem Schluss, dass die elektrostatischen Kräfte der Doppel schicht Wechselwirkungen keinen maßgeblichen Einfluss auf das Bewegungsverhalten haben, sondern dass hierfür die sterischen Kräfte maßgeblich sind [25]. Die sterischen Kräfte sind auch für Sedimentations und Entmischungsprozesse bei selbstverdichtenden Betonen und Leimen verantwortlich, sie können durch Ladungsträger auf den Molekülen der PCE Zusatzmittel gezielt beeinflusst werden.

Da erdfeuchte Betone i.d.R. einen ungesättigten Porenraum besitzen, sind die einzelnen Partikel untereinander nicht frei beweglich. Eine Dispersion kann daher nicht stattfinden,vielmehr wird aufgrund der eingeschränkten Beweglichkeit eine Agglomeration bzw. Koa¬gulation zwangsweise vorgegeben. Auch ungestörte Wasserschichten liegen nicht vor, da die Kontaktabstände hierfür zu gering sind. Die Lagerung der Partikel und deren Verhal ten bei einer Umordnung aufgrund externer Kräfte wird durch die in den vorangegange¬nen Kapiteln vorgestellten Kräfte beeinflusst. Auch können erdfeuchte Systeme nicht entmischen, was ein Beleg dafür ist, dass sterische Kräfte nicht im nennenswertem Um fang wirken

Von den bisher beschriebenen Kräften ist gem. Rumpf [119] die elektrostatische Kraft die schwächste und insbesondere im Falle geringer vorhandener Flüssigkeitsmengen nicht die maßgebende Kraft bei der Anlagerung der Partikel untereinander.Nur im Falle von großen Partikeln (> 100µm) in trockenen Systemen können die Rauhigkeitsunempfindli¬chen elektrostatischen Anziehungskräfte der Partikel untereinander auf Grund von Über schussladungen einen maßgeblichen Einfluss auf Haftung und Agglomeration gewinnen.Bei größeren Abständen der Festkörper gewinnen die elektrostatischen Anziehungskräfte an Bedeutung. Van der Waals kräfte klingen sehr schnell ab und sind bei Abständen > 1 µm praktisch Null. Flüssigkeitsbrücken kommen nur zum Tragen, wenn sie bei sehr kleinem Abstand gebildet wurden und der Abstand danach vergrößert wird. Sie reißen bei einem bestimmten Abstands-Durchmesserverhältnis ab. Bei Abständen > 1 µm wirken nur noch elektrostatische Kräfte. Sie beeinflussen die Anlagerungsvorgänge bevor die Haftung realisiert wird. Dennoch trägt sie gerade im Anfangsstadium der Partikelagglomeration ebenfalls zur Gruppierung der Partikel bei.

Eine mathematisch exakte Beschreibung der Größe der anziehenden bzw. abstoßenden Kräfte, die von Oberflächenladungen ausgehen ist, aufgrund der Vielzahl der Einflusspa rameter wie z.B. Art und Konzentration der Ionen, Partikelgröße und konzentration, nur unter stark vereinfachten Voraussetzungen näherungsweise möglich [114].

Abbildung 73: Elektrostatische Kräfte nach [115], aus [111]

Je nachdem, ob es sich um elektrische Leiter oder Isolatoren handelt, können die elek trostatischen Kräfte mit den in Abbildung 73 enthaltenen Formeln berechnet werden.

Darin sind:

Grundsätzlich gilt, dass die Oberflächenladung für stofflich gleichartige Teilchen unter den jeweiligen Bedingungen gleich ist. Daraus folgt eine Abstoßung der Teilchen, wenn sich die diffusen Teile der elektrischen Doppelschichten durchdringen. Auch die Hydrathülle, in der die Wassermoleküle an der Teilchenoberfläche gebunden sind, setzt dem Annähern der Teilchen einen Widerstand entgegen, die sog. sterische Kraft. Im Falle stofflich unter schiedlicher Teilchen, z.B. Zement und Quarzsand können entgegengesetzte Oberflä-chenladungen vorliegen. In diesem Fall ziehen sich die Partikel und die umgebenden Hydrathüllen gegenseitig an.Nach [120] ist die Bedeutung elektrostatischer Kräfte auf den Bereich von Partikelgrößen < 10 µm begrenzt und verringert sich in Anwesenheit von Feuchtigkeit, da das Wasser einen Ladungsverlust auf den Teilchenoberflächen bewirkt.

Aufgrund der dargestellten Einschränkungen der Wirkungsweise elektrostatischer Kräfte bei feuchten, unbeweglichen und ungesättigten Systemen, wie sie bei erdfeuchten Ze mentleimen auftreten, werden diese im weiteren Verlauf nicht betrachtet.

Nachschlagen
Ermittlung der Grünzugfestigkeit erdfeuchter Zementleimgemische als Grundlage für die Optimierung der Produktion von sofort entschalten Betonwaren

Dissertation von
Dr.-Ing. Stefan Zwolinski

vorgelegt Solingen Juli 2018

Veröffentlicht als Heft 25 in der Schriftenreihe des
Instituts für Konstruktiven Ingenieurbau
Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen
Bergische Universität Wuppertal

Herausgeber
Der Geschäftsführende Direktor
Institut für Konstruktiven Ingenieurbau
Bergische Universität Wuppertal

Fachgebiet
Werkstoffe im Bauwesen
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Steffen Anders
Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Wolfram Klingsch
Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen
Bergische Universität Wuppertal

Organisation und Verwaltung
Institut für Konstruktiven Ingenieurbau
Bergische Universität Wuppertal
Pauluskirchstraße 11
42285 Wuppertal
Telefon: (0202) 439-4039

© Dr.-Ing. Stefan Zwolinski

ISBN 978-3-940795-24-3