4.4   Versagensarten im zentrischen Zugversuch

Grünzugfestigkeit erdfeuchter Zementleimgemische

Bei der Analyse der Versuchsergebnisse aus den Hauptversuchen stellen sich Unterschiede in den Kurvenverläufen heraus, die sich auf das Verhalten vor dem Erreichen der maximalen Zugkraft und das Verhalten nach dem Überschreiten der maximalen Zugkraft bis zum vollständigen Kraftabfall beziehen (lediglich die Gewichtskraft aus Eigengewicht des oberen Probekörperteiles bleibt bestehen).

Ein Teil der Kurven, die eine hohe Zugkraft bei kurzen Wegen aufweisen, ähneln der Skizze in Abbildung 144, die das sogenannte „strain-softening“ bei erhärteten Betonen,als Folge einer Lokalisierung der fortschreitenden Mikrorissbildung, darstellt [143]. Dieser Begriff beschreibt die Begründung für den steilen Abfall der σ ε Kurve.

Abbildung 144: Darstellung des „strain softening“ als Schadens und Bruchmechanismus bei der zentrischen Zugfestigkeit von erhärtetem Beton nach [144], entnommen aus [143]

Es handelt sich um eine Entfestigung, bei der das Versagen auf einen schmalen Bereich konzentriert wird. Nach Abschluss der Bildung eines Systems von Mesorissen flacht die σ ε Kurve ab. Das Phänomen des „strain-softening“ das Vermögen des Betons, auch nach Überschreiten der Festigkeit trotz steigender Verformungen noch Spannungen zu übertragen, kann mit einer Rissuferverzahnung zwischen Gesteinskörnung und Matrix erklärt werden, wie sie in Abbildung 145 schematisch bei Festbeton dargestellt ist. Die erforderlichen Kräfte entstehen aus Reibung zwischen den Rissufern. Nachdem Rissbrücken und Verzahnung langsam durchbrochen wurden, bildet sich ausgehend von einzelnen Mikrorissen ein durchgehender Makroriss, entsprechend Zone 4 in Abbildung 144. Die Anzahl der Mikrorisse, die an der Ausbildung des makroskopischen Risses beteiligt sind, wird nach Kustermann von der maximalen Größe der Gesteinskörnung bestimmt [143] und nimmt mit der Größe der Gesteinskörnung zu.

Abbildung 145: Phänomen der Rissüberbrückung bei Festbeton nach [143]

Auch bei erdfeuchten Zementleimen kann eine Erklärung für das Verhalten nach Überschreiten der maximalen Zugkraft darin bestehen, dass eine Rissuferverzahnung z.B. an gröberen Partikeln entlang stattfindet. So sind bei Zementen Partikel mit einer Größe zwischen 40 80µm als grob zu betrachten und in der Unterzahl, wohingegen die meisten Partikel in einer Größe von 0,1 10 µm vorhanden sind (siehe Abbildung 51).

Abbildung 146: Zugfestigkeits Dehnungsverlauf bei der Ermittlung der zentrischen
Zugfestigkeit aneinem Ton [123], Belastung bei konstanter Zuggeschwindigkeit von 0,001 mm/s bis zum Bruch.

Im Gegensatz zu dem Effekt des strain-softening verliefen zentrische Zugversuche an Ton bei Zeh [123] in Abbildung 146mit einem abrupten Abfall der Zugfestigkeit, ohne dass weitere Lasten aufgenommen werden konnten. Hier wird der Unterschied der Oberflächenstruktur von Ton und von nicht hydratisiertem Zement sehr deutlich: während sich bei Zement die Rauhigkeiten der Oberflächen gegenseitig verzahnen können, reißen bei Ton alle Bindungen abrupt ab, nachdem die Zugfestigkeit überschritten wurde. Abbildung 147 zeigt die plattige Form der Partikel, und glatte Oberfläche eines Kaolinit Tones, dessen Partikel keinen Verzahnungswiderstand aufweisen [145]. Auch sind Tonpartikel deutlich anders beschaffen als Zementpartikel, Tonpartikel sind sehr plattig, ihre Dicke liegt insgesamt unter 1 µm. Die Zugkräfte lagen bei den Untersuchungen, die Zeh in Abbildung 146 wiedergibt, im Mittel bei ca. 0,4 N/mm2 bei einem Weg von ca. 1,3 mm. Damit liegen die zentrischen Zugkräfte bei Ton erheblich über denen an erdfeuchten Zementleimen in dieser Arbeit, die ca. 0,01 N/mm2 betragen. Die Dehnungen sind mit 1,5 mm in etwa in dem gleichen Bereich, in dem auch die Maxima der Zugkräfte der erdfeuchten Zementleimversuche liegen.

Abbildung 147: REM Aufnahme von Kaolinit [145].

Eine qualitative Darstellung der wesentlichen Versagensarten erdfeuchter Zementleime im zentrischen Zugversuch ist in Abbildung 148 aufgeführt. Zunächst ist eine der wesentlichen Unterscheidungen die Ausprägung und der Ort der maximalen Zugkraft. Ein Teil der Versuche (Kategorie Maximum, Fall 1) weist jeweils ein deutliches und stark ausgeprägtes Maximum bei den Zugkraftverläufen auf, teils mit einer konstanten (Fall 1) oder auch mit einer veränderlichen Steigung der Geraden, sowie mit einem konstanten oder veränderlichen Abfall (Fall 2). Ein weiterer Teil (Kategorie Plateau, Fall 3) weist das Maximum als Plateau auf, teils über einen längeren Weg, dabei fällt die Kraft meistens langsamer ab und das Zugdehnungsverhalten kann als duktiler als in den Fällen 1 und 2 bezeichnet werden. Fall 4 zeigt einen typischen Verlauf, bei dem sich ein Bruch bereits beim Überschreiten des Eigengewichtes des oberen Probenteiles einstellt bzw. ein Herausgleiten der Leimprobe aus dem Probekörper erfolgt. Zugkräfte, die von der Leimmatrix aufgenommen werden können, sind nicht messbar bzw. größer als die durch Haftreibung übertragbaren Kräfte.

Bezogen auf die Resultate der Zugversuche deuten sehr abrupt abfallende Kurvenverläufe nach dem Überschreiten der maximalen Zugfestigkeit darauf hin, dass es sich um Partikel mit glatten Oberflächen handelt und einer Kubatur, die eine geringe Verzahnung der Partikel untereinander bewirkt (Fall 1). Dem entgegengesetzte Ausprägungen der Oberflächen und Partikelformen (rauher bzw. kantiger) bewirken flacher abfallenden Zugfestigkeiten mit stärker hervortretenden Effekten in Analogie der Rissuferverzahnung (Fall 2).

Abbildung 148: Qualitative Darstellung der Versagensarten erdfeuchter Zementleime
imzentrischen Zugversuch; waagerechte Verläufe rechts der Maximalkraft entsprechen dem Eigengewicht des oberen Probekörperteilstückes (gem. Abbildung 124).

Knicke in den aufsteigenden Ästen (Fall 2 und 3) deuten auf eine Umlagerung der kraftaufnehmenden Mechanismen hin. Wie in Kap. 2.4.2 dargestellt, sind die Reichweiten der einzelnen Kräfte zwischen Partikeln unterschiedlich, sie liegen zwischen 50 nm (Van der Waals Kräfte) und 500 nm (Adsorptionsfilme), bei Kapillarkräften beträgt die Reichweite ca. das doppelte der Dicke der Flüssigkeitsbrücke. Wenn die Reichweite der van der Waals Kräfte oder der Adsorptionskräfte überschritten wird, dann können nur noch diejenigen Haftkräfte einen Widerstand gegen die Verformung aufbringen, die über längere Distanzen hinweg wirken können, d.h. Kapillarkräfte der Flüssigkeitsbrücken.

Auch werden die kurzreichenden Kräfte früher aktiviert als die mit längerer Reichweite, die erst bei einer größeren Verformung auch einen größeren Kraftwiderstand entgegensetzen. Die Reichweiten der Kräfte werden maßgeblich durch den Kontaktabstand der Partikeloberflächen zueinander beeinflusst. Dieser wiederum hängt von der Wassermenge, d.h. der Wasserfilmdicke um die Partikel, sowie deren Rauhigkeiten ab. Dadurch werden auch die Haftkräfte der Partikel aufgrund von Kapillardruck und Oberflächenspannung maßgeblich bestimmt, weil die Geometrie der Flüssigkeitsbrücken zwischen den Partikeln dadurch beeinflusst wird. Die Brückengeometrie ist abhängig von der Verteilung der vorhandenen Flüssigkeit zwischen den einzelnen Partikeln.Die Annahme von isoliert vorliegenden Brücken an den Kontaktpunkten der Partikel, in denen sich die gesamte vorhandene Flüssigkeit aufhält, erscheint aus folgenden Überlegungen nicht zutreffend:

In erdfeuchten Betonen mit z.B. w/z= 0,35, Gesteinskörnung = 1850 kg/m3, Zement = 260 kg/m3, Flugasche = 120 kg/m3 liegt das feststoffbezogene FlüssigkeitsvolumenVl/Vs (Volumen Wasser/Volumen Feststoffe, entsprechend Vl/Vs aus Abbildung 59) mit ca. 0,11 in den oberen Bereichen der in Abbildung 59 vergleichend gegenübergestellten Verhältnisse. Bezogen auf eine isolierte Flüssigkeitsbrücke liegen bei erdfeuchten Betonen relativ hohe Vl/Vs Anteile vor. Damit ist die zu erwartende Kraft im unteren Bereich der Abbildung 59.

Der Mischvorgang bei erdfeuchten Betonen sorgt für eine homogene Durchmischung und Verteilung aller vorhandenen Ausgangsstoffe. Während der Mischphase werden Flüssigkeitsbrücken durch Relativbewegungen der Feststoffpartikel kontinuierlich gelöst und neu gebildet und das vorhandene Flüssigkeitsvolumen verteilt sich über die gesamte vorhandene Feststoffoberfläche. Feststoffe, die durch Mahlprozesse zerkleinert wurden, wie z.B. Zement oder Kalksteinmehl, weisen außerdem Mikrorisse auf [146], die bei Kontakt mit Flüssigkeit zu Kapillareffekten führen können und dadurch die Anlagerung von Flüssigkeit infolge Ladungsausgleich verstärken. Dadurch werden sämtliche Feststoffoberflächen mit Wasser umhüllt, auch in Mikrorissen und Mikrotälern (siehe Abbildung 46) sammelt.

Generell zeigten sich durch die Auswertungen der Versuche keine Zusammenhänge, die eine zielsichere Prognose der zu erwartenden Zugkräfte und oder Wege eines Leimes möglich machen.

Dennoch hat sich gezeigt, dass das Last Verformungsverhalten, abgebildet als Kurvenverläufe, sehr unterschiedlich sein kann. Die Versuchseinrichtung ist geeignet, mit sehr geringem Aufwand Leimversuche durchzuführen und aufzuzeichnen.

Eine Feststoffkombination aus Zement bzw. Zement mit verschiedenen Zusatzstoffen kann bezogen auf den Wassergehalt daraufhin optimiert werden, dass sich ausgeprägte Bruchverläufe bei möglichst hohen Kräften und geringen Wegen einstellen. Wie auch während der gesamten Versuchsdurchführungen erkennbar war, sind manche Leime nicht prüfbar, weil sie so feucht sind, dass sie aus dem oberen Schalkörper herausgleiten, ohne dass Kräfte gemessen werden können. Auch unter Berücksichtigung dieser phänomenologischen Beobachtungen wird je Leim bei drei bis vier unterschiedlichen Wassergehalten ein optimaler Gehalt gefunden werden können, der weder zu trocken noch zu feucht ist, und über ausgewogene Bindemechnismen von kurzer und mittlerer Reichweite verfügt. Mit diesem Wassergehalt stellt sich eine korrespondierende Oberfläche im Leim sowie eine Wasserfilmdicke je cm2 Oberfläche ein. Erst durch das Leimverhalten bei dem jeweils optimalen Wassergehalt können dann einzelne Leime in ihren Eigenschaften untereinander verglichen werden.

Nachschlagen
Ermittlung der Grünzugfestigkeit erdfeuchter Zementleimgemische als Grundlage für die Optimierung der Produktion von sofort entschalten Betonwaren

Dissertation von
Dr.-Ing. Stefan Zwolinski

vorgelegt Solingen Juli 2018

Veröffentlicht als Heft 25 in der Schriftenreihe des
Instituts für Konstruktiven Ingenieurbau
Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen
Bergische Universität Wuppertal

Herausgeber
Der Geschäftsführende Direktor
Institut für Konstruktiven Ingenieurbau
Bergische Universität Wuppertal

Fachgebiet
Werkstoffe im Bauwesen
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Steffen Anders
Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Wolfram Klingsch
Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen
Bergische Universität Wuppertal

Organisation und Verwaltung
Institut für Konstruktiven Ingenieurbau
Bergische Universität Wuppertal
Pauluskirchstraße 11
42285 Wuppertal
Telefon: (0202) 439-4039

© Dr.-Ing. Stefan Zwolinski

ISBN 978-3-940795-24-3

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